Widererleben ein Vorgang eigener Art

Wiedererleben - ein Vorgang eigener Art

Wiedererleben ist ein Vorgang, der auf einer besonderen Fähigkeit des menschlichen (und tierischen) Organismus beruht, vergangene Vorgänge nacherleben zu können. (Zur Erklärung dieser Fähigkeit habe ich die Hypothese des Erlebnisgedächtnisses eingeführt.)

Beim Wiedererleben geschieht folgendes:

1.    Der Organismus nimmt physisch und psychisch einen Zustand an, der mehr oder weniger dem des ursprünglichen Ereignisses erlebten Zustand nahekommt.

2.    Der Organismus empfindet – mehr oder weniger ausgeprägt – die seinerzeit durch seine fünf Sinne aus der Umgebung aufgenommenen Reize neuerlich. Das heißt: Die wiedererlebende Person sieht, hört, schmeckt, riecht und nimmt die taktilen (haptischen) Reize der „Hautsinne“ wahr (Druck, Temperatur und Oberflächenbeschaffenheit).

3.    Der Organismus reagiert auf diese wiedererlebten Wahrnehmungen physisch (Körperreaktionen) und psychisch (Gefühlsreaktionen) mehr oder weniger ausgeprägt so, wie er seinerzeit darauf reagiert hat. Er verhält sich so, als ob er das frühere Ereignis neuerlich durchleben würde.
Bei kleinen Kindern ist diese Fähigkeit noch deutlich ausgeprägt; das Wiedererleben gehört für sie gleichsam zum Alltag. Mit dem Erwerb der Sprechfähigkeit verkümmert die Fähigkeit zum Wiedererleben jedoch mehr und mehr und ist bei den meisten Erwachsenen nur noch rudimentär vorhanden. Allerdings gibt es Ausnahmen: Die (einigermaßen seltenen) Fähigkeiten des „photographischen und phonographischen Gedächtnisses“ (z. B. von Goethe und von Mozart) beruhen auf dem Wiedererleben. Nach einer sehr starken Traumatisierung kann das Wiedererleben als Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung sehr heftig auftreten (sog. Flash-backs).

Das Wiedererleben ist demnach ein Vorgang völlig eigenständiger Art, der auf keinen anderen Vorgang zurückgeführt und mit keinem anderen (z. B. Hypnose) verglichen werden kann. Er ist nur vor 1988 nicht als solcher erkannt, untersucht und beschrieben worden.


Siegfried Petry, September 2005

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